von Eberhard Zorn
Die Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements waren für die Bundeswehr und das Heer über 20 Jahre der bestimmende Auftrag. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, wissen wir aber, dass wir uns nicht allein auf das internationale Krisenmanagement konzentrieren können. Heute ist es wieder der Auftrag Landes und Bündnisverteidigung, der für uns im Mittelpunkt steht. Der Blick zurück zeigt, dass wir dabei bereits ein gutes Stück vorangekommen sind. Unsere Anstrengungen tragen sichtbare Früchte, und unsere personellen und materiellen Maßnahmen greifen. Ein Blick auf die Auftragserfüllung zeigt: Die Bundeswehr erfüllt alle ihr gestellten Aufträge zuverlässig. Das gilt für die Auslandseinsätze, die einsatzgleichen Verpflichtungen und die Amtshilfe, die wir im Rahmen der Pandemie seit 2020 mit teils erheblichen Kräften leisten. Und auch als uns im Sommer 2021 mit der Hochwasserkatastrophe an Ahr und Erft sowie mit der militärischen Evakuierungsoperation in Kabul zwei unerwartete und hoch dynamisch ablaufende Aufträge ohne Vorlauf gefordert haben, konnten wir reaktionsschnell und effektiv helfen – und wir haben dadurch Leben gerettet. Der Bevölkerung wie auch der Politik haben wir damit erneut bewiesen, dass sie sich auf die Motivation und die Leistungsfähigkeit ihrer Soldatinnen und Soldaten verlassen kann.

Nicht nur national, sondern auch international erfahre ich für unser vielfältiges Engagement hohe Anerkennung. Insbesondere die Verbündeten der NATO betonen immer wieder ihre Dankbarkeit, dass Deutschland und die Bundeswehr sich seit Jahren verlässlich an den Einsätzen des internationalen Krisenmanagements und auch an den Rückversicherungsmaßnahmen an der NATO-Ostflanke beteiligen und dabei viel Führungsverantwortung übernehmen.
Wir werden dies auch weiterhin tun. Denn trotz aller Herausforderungen, die wir durch die Pandemie und die Ereignisse im Sommer 2021 erfahren haben, dürfen wir nicht vergessen, dass Russland seinen eingeschlagenen Weg unvermindert und zielstrebig verfolgt. Das zeigen seine Modernisierungsanstrengungen in allen Dimensionen. Zwischenzeitlich hat Russland ausgeklügelte Anti-Access/Area Denial-Fähigkeiten entwickelt, zu denen abstandsfähige und hypersonische Wirkmittel, elektronischer Kampf, Cyberkomponenten und moderne Luftverteidigung genauso wie der Einsatz gesamtstaatlicher, auch nicht-militärischer Mittel zählen. Deren Einsatz beübt es kontinuierlich in Großübungen wie ZAPAD 2021 im vergangenen September. Unsere östlichen Alliierten besorgt das viel mehr als uns hier in der Mitte Europas. Das dürfen wir trotz der Herausforderungen der letzten Monate nicht vergessen. Die Bedrohungslage zeigt: Deutschlands Rolle in der Bündnisverteidigung hat sich verändert. Wir sind heute mit Blick auf die Dimension Land kein Frontstaat mehr. Aber: Wir sind Aufmarschgebiet, rückwärtiger Operationsraum, Drehscheibe alliierter Truppenbewegungen und „First Responder“ an den Flanken des Bündnisgebietes.
Das macht uns auch selbst zum Angriffsziel – für den Beschuss mit weitreichenden Waffen, aber auch für hybride Aktivitäten, die unterhalb der Schwelle des Artikel 5 des NATO-Vertrages liegen. Gleichzeitig kommt uns eine gewichtige Aufgabe zu, wenn es darum geht, Truppen und Material schnell bis nach Osteuropa zu verlegen. 2021 ist nicht 1989. Das Kriegsbild hat sich in vielfacher Hinsicht verändert, und wir müssen die Landes- und Bündnisverteidigung heute modern und dimensionsübergreifend denken. Panzerschlachten, wie wir sie im Falle eines Krieges gegen den Warschauer Pakt in der Norddeutschen Tiefebene oder im Fulda-Gap gesehen hätten, scheinen heute unwahrscheinlich. Das heißt aber nicht, dass es nicht zum Einsatz gepanzerter Kampfverbände und zu Panzergefechten kommen kann. Der wiederaufgeflammte Konflikt in Bergkarabach im Herbst 2020 hat uns das deutlich gezeigt. Deshalb wäre es falsch, das hochintensive, dynamische Gefecht gänzlich auszuschließen. Es bedarf auch heute robuster, durchsetzungsfähiger und vor allem voll ausgestatteter sowie gut ausgebildeter Großverbände, die das „Gefecht der verbundenen Waffen“ als Teilmenge der Operation verbundener Kräfte wieder beherrschen und dem Gegner verdeutlichen, dass unsere Abschreckung glaubhaft ist.

Mit Blick auf den Kern von Landoperationen bedeutet das: Die Verbände der gepanzerten Kampftruppen müssen in allen Gefechtsarten das klassische Gefecht beherrschen. Panzergrenadiere müssen mit Panzern, aber auch mit Infanterie zusammenwirken. Aufklärer müssen weit vorne Fühlung zum Feind aufnehmen und halten. Artillerie und Pioniere müssen die Kampftruppe mit Feuer und Sperren effektiv unterstützen. Logistik und Sanitätsdienst müssen fähig sein, im Gefecht zu versorgen. Zudem bedarf es moderner, vernetzter Aufklärungs-, Datenübertragungs- und Führungssysteme mit hoch mobilen Gefechtsständen. Die Führungsfähigkeit der Großverbände im Heer treibt mich, den Inspekteur des Heeres und auch alle weiteren Verantwortlichen seit geraumer Zeit um. Dort liegt unser größtes Defizit. Um im Kampf des 21. Jahrhunderts bestehen zu können, brauchen wir dringend eine durchgehende, leistungsfähige, interoperable Führungsfähigkeit, die von der strategischen bis zur untersten taktischen Ebene reicht. Nur so können wir die erforderliche hochmobile Operationsführung gewährleisten, die uns dazu befähigt, auf dem Gefechtsfeld dimensionsübergreifend und in allen Intensitäten wirkungsüberlegen zu sein. Zudem müssen wir heute mit hybriden Aktivitäten und schwer zuzuordnenden Angriffen aus dem Cyberraum rechnen. Sie sind Teil des komplexesten und gleichzeitig auch wahrscheinlichsten Szenarios der Landes- und Bündnisverteidigung. Es ist davon gekennzeichnet, dass ein potenzieller Gegner bewusst unterhalb der Kriegsschwelle agiert und so die Grenze zwischen Militärischem und Nicht-Militärischem bewusst verwischt, um auf diese Weise unsere Gesellschaft zu destabilisieren und den Zusammenhalt der NATO-Mitglieder zu schwächen. Solche Angriffe richten sich nicht nur gegen Streitkräfte – alle Bereiche unseres Lebens können ihr Ziel werden. Kein Ressort ist allein in der Lage, derart diffusen Bedrohungen zu begegnen. Die Abwehr ist deshalb eine gesamtstaatliche Aufgabe. Gegnerische staatliche wie nichtstaatliche Akteure wissen um die daraus resultierenden Schnittstellen und nutzen diese für ihre Angriffe geschickt aus. Deshalb gilt es, das Zusammenwirken der Bundeswehr mit anderen Sicherheitsbehörden auf diesem Feld operativ wie rechtlich weiterzuentwickeln. Eines gilt aber unverändert: Um einen potenziellen Gegner von Aggressionen abzuhalten, brauchen wir glaubwürdige Abschreckung. Dazu bedarf es einer vollausgestatteten Bundeswehr. In den vergangenen Jahren haben wir bereits vieles angestoßen, um unsere Einsatzbereitschaft wieder in der Breite zu erhöhen. Unsere personellen und materiellen Maßnahmen greifen. Der Ausstattungsgrad in der Truppe steigt spürbar. Der Weg bis zum Ziel ist aber noch lang, und manchmal müssen wir trotz aller Anstrengungen auch Rückschläge hinnehmen.

So müssen wir, um die VJTF 2023 auszustatten, erneut auf Materialverschiebungen zurückgreifen. Auch wenn die VTJF (L) 2023 mit ihren multinationalen Komponenten weit über 15.000 Soldaten umfasst – deutlich mehr als die VJTF ( L ) 2019 – hatten wir uns das anders vorgenommen. Dennoch zeigt gerade die VJTF (L) 2023 – mit den modernisierten KPz Leopard 2 A7V, der konsolidierten Nachrüstung des SPz Puma und der Ausgabe des neuen Kampfbekleidungssatzes an alle Soldaten des Verbandes –, dass wir beim Großgerät und auch der persönlichen Schutzausstattung Fortschritte machen, von denen gerade auch die an der Speerspitze beteiligten Panzergrenadiere profitieren. Dabei zeigt sich, dass die Nachrüstungen des SPz Puma notwendig waren und das Waffensystem nun zusehends seine Verlässlichkeit und seinen Einsatzwert unter Beweis stellt. Mit Blick auf die gerade beginnende Legislaturperiode gilt es deshalb, den Austausch der verbliebenen Marder durch neue Waffensysteme voran zu treiben, um auch diese Verbände mit modernem Gerät und damit zukunftsfähig auszustatten. Dabei bietet sich die Gelegenheit, eine derzeit vorhandene operative Lücke zu schließen. Es gilt das Kräftekontinuum des Heeres, das derzeit vorrangig aus leichten und schweren Kräften besteht, um mittlere, radbewegliche Kräfte zu erweitern, damit wir unsere Aufgabe als „First Responder“ an den Grenzen des Bündnisgebietes besser wahrnehmen können.

Im Gegensatz zu derzeitigen Verbänden der gepanzerten Kampftruppen sind mittlere Kräfte durch ihre radgestützte Eigenbeweglichkeit auch über große Distanzen im Landmarsch schnell verlegbar. So können sie schnell verlegbare luftbewegliche Kräfte bis zum Eintreffen von mechanisierten Kräften verstärken, erkannte Lücken in der Operationsführung des Feindes durch den schnellen Stoß in die Tiefe nutzen und auch über große Distanz Räume zeitlich begrenzt gegen einen überlegenen Feind halten. Sie erhöhen die operative Mobilität des Heeres und bieten sich durch diese Eigenschaft auch als operative Reserve an. Der Aufbau mittlerer Kräfte ist aber nicht nur für die Landes- und Bündnisverteidigung erforderlich. Auch im Internationalen Krisenmanagement erhöhen sie durch ihre ausgewogene Kombination aus Feuerkraft, Schutzniveau und Mobilität den Einsatzwert des Heeres. Denn, auch wenn LV/BV für die Bundeswehr die anspruchsvollste Aufgabe ist, dürfen wir das in den Einsätzen des internationalen Krisenmanagements Erlernte nicht vergessen.

Um die bis 2031 gesteckten Ziele und die damit verbundene umfassende Ertüchtigung zur Landes- und Bündnisverteidigung zu erreichen, müssen wir das Tempo weiter hochhalten und unser Ziel hartnäckig verfolgen. Nur dann werden wir dem Anspruch gerecht werden, in allen Lagen, ohne längeren Vorlauf, aus dem Stand heraus reagieren zu können. Die Evakuierung der deutschen Staatsbürger und Schutzbedürftigen anderer Nationen im August dieses Jahres hat uns erneut verdeutlicht, wie wichtig einsatzbereite, reaktionsfähige und schnell verlegbare Kräfte sind, um der Politik in dynamisch ablaufenden Krisensituationen die erforderlichen Handlungsoptionen zu bieten. Den militärischen Evakuierungsverband konnten wir mit dieser Kaltstartfähigkeit verlegen, weil wir die Kräfte dauerhaft vorhalten, intensiv beüben und für den Auftrag auch vollausgestattet haben. Das ist der Zustand, den wir für die Einsatzverbünde aller Dimensionen bis 2031 erreichen wollen. Deshalb müssen wir die Beschaffung von Material und Ausrüstung weiter beschleunigen und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr weiter steigern. Zudem verschlanken wir unsere Führungsstrukturen, verringern unsere Schnittstellen, verkürzen unsere Entscheidungswege und reinvestieren oben freiwerdende Ressourcen unten auf der taktischen Ebene. All das tun wir, um die Truppe zu stärken und die Effektivität unseres Handelns weiter zu steigern.

Aber auch für den Fall, dass wir nicht alles bekommen, was wir uns wünschen oder das Gerät verspätet zuläuft: Wir müssen trotzdem jederzeit vorbereitet sein. Denn den Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung haben wir bereits heute. Und egal zu welchem Zeitpunkt: Wir müssen immer dazu in der Lage sein, mit dem zu üben und in letzter Konsequenz zu kämpfen, was auf dem Hof steht. Letztlich ist Einsatzbereitschaft vor allem auch von der richtigen inneren Einstellung abhängig. Panzergrenadiere müssen auf Übungen sowie im Gefecht mit ihrem Schützenpanzer kämpfen und auf engstem Raum in ihm leben. Der Wechsel der Kampfweise, das Werfen einer Stellung und auch der Kampf um Sperren braucht Ausdauer, Kraft und Willen. Um die Einsatzbereitschaft auf dem Gefechtsfeld auch über Tage und Wochen erbringen zu können, muss jeder und jede Einzelne das Handwerk beherrschen, fit sein und sich auch fit halten – körperlich, fachlich und geistig. Zu alldem kommen die Anstrengungen der Auslandseinsätze, die absehbar nicht enden werden. Die Soldatinnen und Soldaten der Panzergrenadiertruppe haben in den Einsätzen des internationalen Krisenmanagements Professionalität, Moral, Kampfgeist und hohen Einsatzwert bewiesen. Dabei müssen sie auch künftig darauf eingestellt sein, in Auslandseinsätzen gegen einen verdeckt und oft aus dem Hinterhalt agierenden Gegner zu kämpfen.
Im Gegensatz zu früheren Generationen können sie sich nicht mehr nur auf eine Aufgabe konzentrieren. Denn sie werden heute im Rahmen der Abschreckung bei der eFP in Litauen eingesetzt, morgen in Afrika und übermorgen wieder bei einer großen Übung der NATO. In allen Einsätzen und bei Übungen, im Rahmen der Pandemie, beim Hochwasser und auch bei der Evakuierungsoperation habe ich überall Kameradinnen und Kameraden gesehen, die die Haltung, Pflichterfüllung und den Mindset gezeigt haben, den ich und unsere Gesellschaft von ihnen erwarten. Sie haben mit Tatkraft, Ausdauer und Zielstrebigkeit zugepackt. Das zeigt mir: Jederzeit einsatzbereit zu sein, hängt nicht von Material und Ausrüstung alleine ab, es ist zuvorderst Einstellungssache. Lassen Sie uns den Auftrag Landes- und Bündnisverteidigung mit dieser inneren Einstellung angehen. Dann werden die Bundeswehr und ihre Soldatinnen und Soldaten den Auftrag auch zu jeder Zeit, auch aus dem Stand heraus, verlässlich wahrnehmen können und so ihren Beitrag für den Frieden und die Freiheit in Deutschland und Europa leisten.
Abschließend gratuliere ich dem Freundeskreis der Panzergrenadiere zum 25jährigen Bestehen. Sie stehen für gelebte Kameradschaft, für erstklassige zukunftsweisende Veranstaltungen und Traditionspflege vor Ort über Dienstgrad- und Generationengrenzen hinweg. Diese beeindruckende Kontinuität ist besonders in diesen bewegten Zeiten wichtig und ich danke jedem und jeder Einzelnen für das persönliche Engagement.
