Von Jan-Phillipp Weisswange
Aus einer detaillierten Auswertung des Ukraine-Krieges lassen sich wertvolle Folgerungen für die Planung der eigenen Landes- und Bündnisverteidigung ziehen. Zu den wichtigen Merkposten für diese Auswertung zählt eine genauere Betrachtung der infanteristischen Operationsführung im Ukraine-Krieg. Hierbei sollte insbesondere der Jagdkampf im Fokus stehen.
Unter Jagdkampf soll hier grundsätzlich eine besondere infanteristische Gefechtshandlung verstanden werden. Dabei erfolgen kleinere, aufeinander und auf den Operationsplan der übergeordneten Führung abgestimmte Einsätze von Jagdkommandos in einem bestimmten Raum, um Feindkräfte aufzuklären, zu schwächen, zu stören, zu täuschen und zu binden. Der Jagdkampf kann im Rahmen jeder Operationsart – Angriff, Verteidigung, Verzögerung und auch Stabilisierung – geführt werden (gemäß jüngerer deutscher Doktrinen gilt Jagdkampf als eigenständige infanteristische Operationsart).

(Foto: Bundeswehr)
Merkmale des Jagdkampfes
Im Jagdkampf eingesetzte Kräfte können tief hinter die feindlichen Linien eindringen und ein Mehrfaches ihrer eigenen Stärke binden. Kennzeichen des Jagdkampfes ist der rasche Wechsel zwischen Verbergen und überraschendem Zuschlagen – insbesondere in Form von Handstreichen und Hinterhalten.
Jagdkommandos können hinter den feindlichen Linien die eigene Operationsführung unterstützen, indem sie beispielsweise feindliche Nachschubwege stören oder bedeutende Ziele wie Gefechtsstände ausschalten. Im eigenen Hinterland können Jagdkommandos zum Schutz von Räumen beitragen. Hierbei können sie beispielsweise gegnerische Spezialkräfte oder Sabotagetrupps aufklären und bekämpfen.
Gelände und Wetter begünstigen den Jagdkampf. Sie können dem Feind Sicht und Bewegung erschweren, während sie den eigenen Kräften wiederum überraschendes Zupacken und schnelles Lösen vom Feind erleichtern. Waldgebiete und bergiges Gelände bieten die günstigsten Voraussetzungen. Bebautes Gelände ist weniger gut geeignet.
Träger des Jagdkampfes sind die Jagdkommandos. Deren Zusammensetzung ergibt sich vor allem aus den zu erfüllenden Aufträgen. Allerdings sind Qualität von Führern und Truppe meist wichtiger als die Zahl der eingesetzten Soldaten. Das Jagdkommando sucht den Kampf!
Auch wenn der Jagdkampf eine infanteristische Gefechtshandlung ist, bedeutet dies nicht, dass er nur durch die Infanterie geführt werden kann. Er erfordert jedoch entsprechende Kenntnisse, Aus- und Fortbildungen. Im Jagdkampf ausgebildete Soldaten können mit vergleichsweise geringen Mitteln erhebliche Erfolge erzielen. Selbst zusammengewürfelte Kleingruppen aus Versprengten können im Rücken des Gegners den Jagdkampf führen, während sie sich zu den eigenen Teilen durchschlagen.

(Foto: Bundeswehr)
Jagdkampf in der ukrainischen Kriegführung
Die ukrainischen Streitkräfte führten vor allem in der ersten Phase des Krieges in den ausgedehnten Räumen hinter den russischen Angriffsspitzen den Jagdkampf. Dieser kann als ein Schlüssel zum operativen Erfolg der ukrainischen Streitkräfte unter anderem bei der Verteidigung von Kiew und anderer Städte gelten. Der an der Universitat St. Andrews in Schottland strategische Studien lehrende amerikanische Historiker Phillipps Paysen O‘Brian sieht in einer seiner frühen Analysen des russich-ukrainischen Konfliktes vier Merkmale, die den „Ukrainischen Weg der Kriegführung“ kennzeichnen: die gegnerische Luftherrschaft über dem Einsatzgebiet verhindern, die Kontrolle über die Ortschaften und Städte verhindern, um so die gegnerische Verbindung und Versorgung zu erschweren, den Gegner dazu verleiten, sich in Kolonnen zu formieren und diese gegnerischen Kolonnen dann von allen Seiten angreifen.
Auch weitere Experten wie der U.S. Navy-Admiral a. D. James G. Stavridis oder der damalige Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie des österreichischen Bundesheeres, Oberst Dr. Markus Reisner (der ausgebildete Jagdkommando-Offizier übernahm im Herbst 2022 die in Wien stationierte Garde des Bundesheeres als Kommandant), hoben in ihren Analysen nach mehreren Wochen Krieg in der Ukraine die Wirksamkeit von Hinterhalten auf die ausgedehnten Versorgungslinien der russischen Streitkräfte mehrfach hervor. Dabei wurde auch das Gelände zweckmäßig ausgenutzt. Durch ihre Kampfweise hätten die ukrainischen Streitkräfte das weitere Vordringen des russischen Gegners verzögert, ihn dazu gezwungen, mehr Kräfte zur Sicherung seiner Verbindungslinien einzusetzen und letztlich zum Umgruppieren sowie zu einer Änderung der Kriegsziele gezwungen.
Stavridis und Reisner betonten noch andere Faktoren als weitere wesentliche Schlüssel zum operativen Erfolg in dieser Kriegsphase. Hierzu zählten moderne Panzerabwehr-Handwaffen, Spezialkräfte-Operationen gegen gegnerische Hochwertziele, der erfolgreiche Einsatz unbemannter Luftfahrzeugplattformen oder auch die Weitergabe von Aufklärungsergebnissen und Zieldaten in Echtzeit an die ukrainischen Streitkräfte durch westliche Staaten. Stavridis schloss daraus sogar auf eine neue „Taktische Triade“ aus Spezialkräften, Unbemannten Systemen sowie Cyber-Warfare.
Die ukrainischen Streitkräfte setzten ihr Jagdkampf-Konzept auch nach dem Ausweichen der russischen Streitkräfte über den Dnjepr fort. Kleine Kommandos überquerten den Fluss nachts mit Schlauchbooten und griffen rückwärtige Ziele an. Diese waren zuvor durch Kleindrohnen aufgeklärt worden.
Mitte Dezember 2022 berichteten die ukrainischen Verteidiger ihrerseits, dass der russische Angreifer seine Taktik geändert hätte. So setze er ebenfalls kleinere Einheiten unterstützt von Artillerie ein, um die Verteidiger gezielt zu schwächen. Dabei stand auch kritische Infrastruktur im Fokus- insbesondere die Energie- und Wasserversorgung. Dabei handelte es sich jedoch weniger um Jagdkampf, sondern eher um eine Art stufenweise Stoßtrupptaktik.

(Foto: Bundeswehr)
Jagdkampf als Konzept für die Landes- und Bündnisverteidigung
Dass der Jagdkampf durchaus Teil einer größeren Strategie zur Landes- und Bündnisverteidigung bilden kann, ist bei weitem keine Neuerung. Es sei nur an die 1960er Jahre erinnert, insbesondere an die Spannocchi-Doktrin des Österreichischen Bundesheeres und die Heeresstruktur 3 der Bundeswehr.
General Emil Spanocchi und weitere Offiziere entwickelten – teils parallel – zu Beginn der heißen Phase des Kalten Krieges eine Strategie der Raumverteidigung. Diese sah unter anderem vor, Verzögerungsgefechte zu führen und eigenen Raum preiszugeben. Jagdkommandos sollten dann den Kampf gegen den vorgestoßenen Gegner mit Mitteln des Kleinkriegs fortführen. Vor diesem sicherheitspolitischen Hintergrund erfolgte 1963 im Bundesheer der erste Jagdkommando Grundkurs – die Keimzelle der heutigen Spezialkräfte der Alpenrepublik, die sich seither freilich deutlich zu einem modernen Tier-1-Instrument weiterentwickelt haben.
Etwa im gleichen Zeitraum setzte das Deutsche Heer im Rahmen der Heeresstruktur 3 das „Jägerkonzept“ um. Um den Kampf in panzerungünstigem Gelände führen zu können, gliederten die Großverbände im hessischen Bergland (2. Panzergrenadierdivision) und im Bayerischen Wald (4. Panzergrenadierdivision) zu panzerabwehrstarken Jägerdivisionen um, die abgegebenen Panzer kamen in die auf Korpsebene angesiedelten Panzerregimenter I und II. Auch in der Schweiz gab es in dieser Zeit Überlegungen, wie infanteristische Verbände gegen mechanisierte Gegner erfolgreich kämpfen könnten – maßgeblich vorangetrieben durch Oberstbrigadier Erich Brandenberger. Diese dürften die seinerzeitigen österreichischen und westdeutschen Planungen ebenfalls beeinflusst haben.
Der Jagdkampf kann auch ein wesentliches Element der Kleinkriegführung gegen Besatzungsmächte sein. Auch diesbezüglich leisteten die Eidgenossen nach dem Zweiten Weltkrieg Pionierarbeit. So stammt ein Standardwerk aus der Feder eines schweizerischen Offiziers: Major Hans von Dach verfasste mit dem Buch „Der totale Widerstand – Kleinkrieganleitung für Jedermann“ einen Klassiker der Kleinkriegführung.
Mit den ersten Rückbesinnungen auf die Landes- und Bündnisverteidigung nach der Krim-Invasion im Frühjahr 2014 entstanden innerhalb einiger NATO- und EU-Staaten Konzeptionen für die Kleinkriegführung im feindbesetztem Gebiet – das Stichwort lautet „Resistance Operating Concept“. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, dass einige Nationen die Schwerpunkte bei den Aufträgen ihrer Spezialkräfte verlagerten. So rückte beispielsweise in den USA und Großbritannien vermehrt die Unconventional Warfare wieder in den Fokus – und damit eine der ureigensten Aufgaben von Spezialkräften als strategischem Hochwertinstrument. Diese umfasst auch die Ausbildung von und Zusammenarbeit mit Widerstandsgruppen in feindbesetzem Gebiet.

(Foto: U. S. Army)
Anpassungen des Jagdkampf-Konzeptes für die Gefechtsfelder der Zukunft
Angesichts der Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg verdient der Jagdkampf insbesondere in Deutschland und der NATO eine Neubetrachtung, zumal man gerade im deutschsprachigen Raum nicht bei Null beginnt. Hierzu gehört es natürlich, die entsprechenden Konzeptionen weiter zu entwickeln. Dabei müssen zunächst operative und technische Neuerungen berücksichtigt werden.
Die Ausstattung der Jagdkommandos mit moderner Aufklärungstechnik, Bewaffnung einschließlich Panzerabwehrwaffen und weiterer Kampfmittel wie luftgestützter Abrufmunition („Loitering Munition“), die Nutzung unbemannter Plattformen, neue Möglichkeiten der Vernetzung bei gleichzeitiger Verschleierung der eigenen elektronischen Signaturen, moderne Tarnmaßnahmen insbesondere vor Nachtsicht, das Einbinden von Elementen der streitkräftegemeinsamen taktischen Feuerunterstützung seien nur impulsartig als Stichpunkte genannt. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Erhöhung der Mobilität, um das Operieren in größeren Einsatzräumen zu ermöglichen. Dies kann auch amphibische oder gar triphibische Fähigkeiten einschließen. Ebenso gilt es, Konzepte für den Jagdkampf in urbanen Einsatzräumen zu entwickeln. Urbaner Jagdkampf erfordert über die oben genannten Punkte hinaus beispielsweise besondere Aufklärungs- und Tarnmaßnahmen, besondere Ausstattung zum Überwinden von Hindernissen, Nachtsichttechnologie für Bewegungen in dunklen Gebäuden oder der Kanalisation, besondere Kenntnisse hinsichtlich der Sprengtechnik und vieles weiteres mehr. Bei alledem gilt es natürlich trotzdem, einen Grundsatz zu beachten: Im Jagdkampf hat nur das Einfache Erfolg!
Weiterhin verdient der Aspekt des Jagdkampfes beim Schutz von Räumen wieder vermehrt Beachtung. Die Bundeswehr hat mit dem neuen Konzept „Reservekräfte Schutz und Sicherung“ erste zarte Pflänzchen in Richtung des Schutzes rückwärtiger Räume gesetzt. In den Bereichen des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr, des Kommandos Luftwaffe, des Marinekommandos und des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr sollen insgesamt 40 Objekte durch Sicherungskompanien und teilweise abgesetzte Züge gesichert werden. Eine Anfangsbefähigung soll 2025 erreicht werden. Hinsichtlich der unbestreitbar erforderlichen Weiterentwicklung dieses Ansatzes empfiehlt sich ein Blick auf die skandinavischen, die polnischen und auch die ukrainischen Partner mit ihren „Heimwehren“ bzw. Territorialen Verteidigungskräften. Eine auf ein Milizsystem gestützte regional organisierte Territorialkomponente deutscher Streitkräfte könnte sich aus ortskundigen Bürgerinnen und Bürgern rekrutieren, die in ihrem Verantwortungsbereich übertrieben formuliert „jeden Grashalm“ kennen. Gut ausgebildete und ausgestattete, motivierte territoriale Verteidigungskräfte könnten im Rahmen des Schutzes rückwärtiger Räume – sofern die Lage es erfordert – den Jagdkampf gegen feindliche Spezialkräfte und Sabotagetrupps führen.
Ob im Angriff oder in der Verteidigung, ob in ausgedehnten Waldgebieten oder im urbanen Raum: Eine hohe Einsatzbereitschaft und Kampfmoral sind wesentliche Voraussetzung für den Erfolg im Jagdkampf – auch dies haben die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten eindrucksvoll belegt.

Dr. Jan-Phillipp Weisswange, OTL d. R. Heeresaufklärungstruppe, arbeitet als Referent Öffentlichkeitsarbeit in der wehrtechnischen Industrie. Dieser Artikel gibt ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Dieser Artikel erschien in der „Europäischen Sicherheit und Technik 5/2023.