Ein Thesenpapier mit Praxisbezug von Uwe Hartmann
Jeder weiß, was Erziehung bedeutet. Und genau hierin liegt ein Problem für die Bundeswehr. In ihren Regelungen weist sie Vorgesetzten einen Erziehungsauftrag zu, versäumt es allerdings, das spezifische militärische Erziehungsverständnis von dem abzugrenzen, was die meisten Menschen in Deutschland mit dem Erziehungsbegriff in Verbindung bringen: die Erziehung von Kindern und Jugendlichen in Schule und Familie oder in der Sozialarbeit. Dies ist in hohem Maße irreführend. Tatsächlich hat die soldatische Erziehung mit Kinder- oder Jugenderziehung nichts zu tun; denn deren maßgebliche Bezugsgröße ist das jeweilige Kriegsbild.
Seit den preußischen Heeresreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die Geschichte der Bundeswehr hinein war das Kriegsbild die wesentliche Bestimmungsgröße für die Theorie und Praxis soldatischer Erziehung. Aus der Natur des Krieges und der Analyse seiner historisch bedingten Erscheinungsformen wurden deren Ziele, Methoden und Mittel abgeleitet. Es ist daher folgerichtig, dass der Erziehungsbegriff von Anfang an von der zivilen Kinder- bzw. Schulerziehung unterschieden wurde. Ist der spezifische Inhalt des militärischen Erziehungsbegriffs Vorgesetzten nicht bekannt, besteht die Gefahr, dass diese unreflektiert ihr ziviles, zumeist auf eigenen Erfahrungen in Schule und Familie beruhendes Verständnis von Erziehung anwenden. Das scheint heute in der Bundeswehr weithin der Fall zu sein. Viele Vorgesetzte lehnen den Begriff ab, weil sie meinen, Erwachsene dürften nicht erzogen werden; oder sie verstehen darunter eine Art „ermahnendes Gespräch“, bei dem man „als General auch schon mal einen Oberstleutnant an die Seite nimmt“. Weit verbreitet ist das Verständnis von Erziehung als einer „gesonderten Behandlung“ derjenigen Soldatinnen und Soldaten, die disziplinare Probleme bereiten.

Neuerdings scheint die militärische Führung der Bundeswehr eine Vorliebe für den Begriff der Prägung entwickelt zu haben. Dieser Begriff beschreibt jedoch kein pädagogisches Handeln. Er stammt vielmehr aus den Bereichen der Verhaltensbiologie und der Mechanik. So werden beispielsweise neugeborene Enten durch ihre Umwelt geprägt. Münzen erhalten ihre Prägung in einem maschinellen Prozess. Die Verwendung dieses Begriffs im Hinblick auf Soldatinnen und Soldaten erinnert stark an Ideen einer Entpersönlichung oder Indoktrinierung. Tatsächlich gab es diese pädagogischen Irrwege auch in den dunklen Phasen der deutschen Militärgeschichte. Sie haben in der Bundeswehr keinen Platz. Es kommt daher darauf an, die Inhalte des militärischen Erziehungsbegriffs aus dem tradierten Erbe historisch abzuleiten, konzeptionell zu begründen und in einer konzertierten Aktion in der gesamten Bundeswehr zu vermitteln.
Im Folgenden werden Thesen formuliert, die zur Diskussion über das richtige Begriffsverständnis anregen und mögliche praktische Folgerungen aufzeigen sollen. Dass vor dem Hintergrund aktueller Defizite in der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte die Bedeutung soldatischer Erziehung betont wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigt die Dringlichkeit auf, endlich ein gemeinsames Verständnis in Bundeswehr sowie in Politik und Gesellschaft über Theorie und Praxis soldatischer Erziehung zu erarbeiten.
Was meint Erziehung? – Historische Anmerkungen
- In den deutschen Armeen vor 1945 beruhte das Verständnis von soldatischer Erziehung im Wesentlichen auf dem Kriegsbild. Es wurde maßgeblich durch die von Clausewitz inspirierte Kriegstheorie (Krieg als Akt der Gewalt, gekennzeichnet durch Ungewissheit, Friktion, Fehler, Chancen) sowie durch die geopolitische Lage Deutschlands (Mittellage, Mehrfrontenkrieg mit dem Zwang, personelle und materielle Unterlegenheit durch die professionelle Qualität der Soldaten aller Dienstgrade auszugleichen) beeinflusst. Daraus leiteten sich die konkreten Erziehungsziele ab. In der heutigen Bundeswehr überwiegen dagegen Begründungsversuche, die auf einen diffusen, empirisch nicht ermittelten Orientierungsbedarf junger Menschen abheben. Oder welche die Erziehung von Soldatinnen und Soldaten mit der Notwendigkeit einer „Nach-Erziehung“ begründen, da deren militärisches Fehlverhalten auf Defiziten in der familiären und schulischen Erziehung beruhe, die während des Wehrdienstes nachträglich behoben werden müssten. Offizielle Verlautbarungen bringen Erziehung häufig mit „Herzensbildung“ (emotionale bzw. affektive Komponente der Persönlichkeitsentwicklung, während Ausbildung und Bildung die kognitive Seite ansprächen) in Verbindung. All diese Überlegungen gehen am Kern von soldatischer Erziehung vorbei und sind teilweise kontraproduktiv. Das übergeordnete Erziehungsziel im deutschen Militär seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist der im mitdenkenden Gehorsam verantwortlich handelnde, Friktion selbständig überwindende und Chancen initiativreich ergreifende Soldat. Dieses Erziehungsziel dürfte angesichts der unveränderlichen Natur des Krieges auch für die Bundeswehr gültig sein. Auch wenn Deutschland heute in das transatlantische Bündnis integriert und nicht mehr von überlegenen Feinden umgeben ist, so bestehen die hohen Anforderungen an die Qualität deutscher Soldaten fort. Sie resultieren vor allem aus der Rolle der Bundeswehr als Rückgrat der konventionellen Verteidigung in Europa und ihrer Lead Nation-Funktion im internationalen Krisenmanagement.
- Für die Begründer der Bundeswehr war allerdings von Anfang an klar, dass Erziehungsziele nicht nur aus dem Kriegsbild, sondern auch aus der Demokratie als Staats- und Lebensform abgeleitet werden müssten. Aufgrund der Hybridität des damaligen Kriegsbildes („permanenter Weltbürgerkrieg“ mit Indoktrination, Propaganda und Subversion) bestand eine Kongruenz der Bezugsgrößen Krieg und Demokratie, die im Leitbild vom „Staatsbürger in Uniform“ auf den Begriff gebracht wurde. Für die Bundeswehr kommt es heute darauf an, einen pädagogischen Grundgedankengang zu erarbeiten, der Erziehung aus einem Kriegsbild und der Schutzbedürftigkeit der Demokratie ableitet und sich deutlich von familiären und schulischen Erziehungskonzepten abgrenzt.

Was meint Erziehung? – Konzeptionelle Anmerkungen
- Im Kern bedeutet soldatische Erziehung „indirekte Erziehung“. Sie bezeichnet die pädagogisch reflektierte Gestaltung von Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes, d.h. von Organisationsstrukturen, Führungsprozessen und Ausbildungsbedingungen. Ob es um Übungen von Großverbänden oder die Individualausbildung geht, ob ein neues Beurteilungssystem konzipiert oder einzelne Beurteilungsgespräche durchgeführt werden, sogar der Bau von Kasernen soll so gestaltet werden, dass das Verantwortungsbewusstsein von Soldaten und damit deren Einsatzbereitschaft gefördert werden. Der in der Anfangsphase der Inneren Führung verwendete Begriff der „Erlebnistherapie“ beschreibt diese pädagogisch reflektierte Führung und Ausbildung sehr anschaulich. In der Rollentrias von Vorgesetzten stand daher die Erziehung an erster Stelle, gefolgt von Führung und Ausbildung. Diese Leitfunktion von Erziehung ist in der Bundeswehr heute kaum mehr bekannt. In Führung und Ausbildung überwiegen Managementtheorien und Effizienzdenken. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Bürokratisierung der Bundeswehr Überhand nehmen konnte und die vertikale Kohäsion (Vertrauen zwischen unten und oben) beeinträchtigt ist. Es kommt darauf an, Erziehung als den wichtigsten Transmissionsriemen für agile Streitkräfte und den Zusammenhalt in den Streitkräften zu verstehen.
- Im deutschen Militär ist die Verantwortung für die soldatische Erziehung an das Vorgesetztenverhältnis (in der Regel an die Dienststellung oder den Dienstgrad) und nicht an das Lebensalter oder die Lebenserfahrung gebunden. Das ist ein wesentlicher Unterschied zum zivilen Erziehungsbegriff, der auf dem Generationenverhältnis beruht. Denn die Befugnis, Organisationsstrukturen, Führungsprozesse und Ausbildungsverfahren zu gestalten, ist in hierarchischen Organisationen an die Amtsautorität gebunden. Konkret bedeutet dies: Der 25jährige Oberleutnant ist der Erzieher des 45jährigen Stabsfeldwebels, was natürlich nicht ausschließt, dass der Oberleutnant viel von seinem erfahrenen Portepeeunteroffizier lernen kann (und soll). Dementsprechend ist der Generalinspekteur der Bundeswehr der erste und oberste Erzieher in den deutschen Streitkräften. Daraus resultiert seine Gesamtverantwortung für die Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes in der Bundeswehr. Die beklagenswerte überbordende Bürokratie der Bundeswehr ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die militärische Führung ihren Erziehungsauftrag nicht verstanden hat und/oder dass Politik und zivile Verwaltung deren Befugnisse so weit einschränkten, dass ihnen die pädagogisch reflektierte Gestaltung von Organisationsstrukturen, Führungsprozessen und Ausbildungsbedingungen nicht in ausreichendem Maß möglich war.
- Damit wird deutlich, an wen sich der Erziehungsbegriff im deutschen Militär wendet: direkt an den militärischen Vorgesetzten und indirekt an den politischen Auftraggeber und die zivile Verwaltung der Bundeswehr. Die Gestaltung der Rahmenbedingungen ist allerdings nicht hinreichend für das Erreichen von Erziehungszielen. Unverzichtbar ist die Bereitschaft der unterstellten Soldatinnen und Soldaten, sich selbst im Sinne der gültigen Erziehungsziele zu erziehen. Der Erziehungsbegriff steht also in einem Wechselwirkungsverhältnis mit dem Begriff der Selbsterziehung. Erziehung und Selbsterziehung bilden die zwei Seiten einer Medaille. Damit ist jeder Soldat in die Mitverantwortung genommen für seine Persönlichkeitsbildung, d.h. für die höchste und der Komplexität moderner Einsatzszenarien angemessene Entwicklung seiner Einsatzbereitschaft. Diese hat immer auch eine politische Dimension, wie die gegenwärtigen hybriden Bedrohungen belegen und worauf das „Leitbild vom Staatsbürger in Uniform“ anschaulich hinweist. An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass der Begriff der Prägung kontraproduktiv ist.
- Erziehung bildete ursprünglich den strategischen Kern bzw. das „Herzstück“ der Inneren Führung als einer Führungs- und Organisationsphilosophie. Dies unterstreicht, dass Erziehung nicht auf eine pädagogisch absichtsvolle Interaktion mit einzelnen Soldaten beschränkt werden darf. Erziehung meint auch deutlich mehr als Menschenführung. Sämtliche Rahmenbedingungen des militärischen Dienstes sollen so gestaltet werden, dass sie der Persönlichkeitsbildung von Soldatinnen und Soldaten dienlich sind. Dieser Gedanke ist uns heute weithin verlorengegangen. Es kommt darauf an, die Innere Führung über die Revitalisierung des Erziehungsbegriffs weiterzuentwickeln.

Was bedeutet Erziehung in der Praxis?
- Alle Führungsentscheidungen, Vorschriften und Erlasse sind vor einer Schlusszeichnung daraufhin zu prüfen, ob sie den Zielen soldatischer Erziehung entsprechen. Sie müssen Soldatinnen und Soldaten Freiräume für Mitdenken und Eigeninitiative einräumen, damit diese verantwortliches Handeln im Sinne des gültigen Kriegsbildes einüben können. Das BMVg (FüSK III) mit seinem Arbeitsmuskel Zentrum Innere Führung (ZInFü) erfährt damit eine herausgehobene Rolle in der Organisationsentwicklung der Bundeswehr.
- Vorgesetzte in der Truppe müssen darauf achten, dass in Befehlen das Führungsprinzip des Führens mit Auftrag („Auftragstaktik“) beachtet wird und die unterstellte Truppe die damit verbundenen Freiräume erkennt, nutzt und einübt. In der taktischen Ausbildung sollte ein besonderer Schwerpunkt auf das begründete Abweichen vom Auftrag gelegt werden. Darin zeigen sich gewissensgeleiteter bzw. mitdenkender Gehorsam sowie die Bereitschaft zur Eigeninitiative besonders deutlich.
- Vertrauen ist ein wichtiges Erziehungsziel. Vorgesetzte sollen ihre Soldaten und Soldatinnen so führen und ausbilden, dass sie bereit sind, Fehler, die sich in die Lagebeurteilung und Befehlsgebung eingeschlichen haben, selbständig zu beheben. Aufgrund der im Krieg allgegenwärtigen Friktion sind Vorgesetzte gut beraten, Soldatinnen und Soldaten verständlich über ihre Absichten zu unterrichten und sie zu ermutigen, auch ohne Befehl zu handeln und von einem Befehl abzuweichen, wenn die Lage vor Ort mit der Lagebeurteilung in Befehlen nicht übereinstimmt. Wer so erzogene Soldatinnen und Soldaten führt, darf getrost darauf vertrauen, dass sie jederzeit eigene Führungsfehler beheben. Gegenseitiges Vertrauen ist das Band, welches die Truppe vom Mannschaftsdienstgrad bis zum General zusammenhält und deren Leistungsfähigkeit wesentlich mitbestimmt.
- Grundsätzlich sind Führung und Ausbildung so zu gestalten, dass sie der Persönlichkeitsentwicklung der Soldatinnen und Soldaten (im Verband/in der Einheit/im Hörsaal oder auch individuell) dienlich sind. Das bedeutet eine Abkehr vom Primat von Managementtheorien und Effizienzdenken hin zum Vorrang eines pädagogischen Grundgedankenganges, in dem die Förderung von Verantwortung im Vordergrund steht. Damit würde auch das Führen mit Auftrag wiederbelebt.
- Vorgesetzte sollten ihre Soldaten so führen und ausbilden, als wären sie etwas verantwortungsbewusster als sie in Wirklichkeit sind. Sie sollen ihnen die Chance geben zu erfahren, was in ihnen steckt und was sie daran hindert, ihre Kompetenzen und Tugenden ganz in den Dienst der Sache zu stellen. Sie sollten bereit sein, von unterstellten Soldatinnen und Soldaten zu lernen und eigene Fehler zuzugeben. Das schafft Vertrauen und Selbstvertrauen und fördert zudem die vertikale Kohäsion. Durch Entbürokratisierung / Digitalisierung gewonnene Zeit sollte für diese Aufgabe genutzt werden.
- Wesentlich dafür ist eine ausgeprägte Fehlerkultur. Soldaten sollten gelobt werden, wenn sie neue Wege gehen, auch wenn sie dabei Fehler machen oder scheitern. Grundsätzlich sind Soldatinnen und Soldaten vor einer Belehrung zu fragen, warum sie etwas so und nicht anders gemacht haben.
- Angesichts der Arbeitszeitregelungen können viele Kenntnisse und Kompetenzen nicht mehr in der nötigen Form während des Dienstes vermittelt werden. Es kommt darauf an, einen Rahmen zu schaffen, der auch zur eigenständigen Weiterbildung anregt. Vorgesetzte sollten dabei mit Beispiel vorangehen.
- Die „kleine Kampfgemeinschaft“ ist ein bestens geeigneter Ort für Erziehung und Selbsterziehung. Darüber hinaus kommt es darauf an, Verbände und letztlich die gesamte Truppe als eine Erziehungsgemeinschaft zu begreifen. Die beabsichtigte Revitalisierung des Erziehungsbegriffs in der Ausbildung zum Einheitsführer ist „zu kurz gesprungen“. Sie muss durch Weiterbildungsmaßnahmen auf den höchsten Führungsebenen ergänzt werden.

Schlussbemerkungen
Der aus dem Kriegsbild abgeleitete Erziehungsauftrag militärischer Vorgesetzter wurde in Führungsvorschriften bzw. Regelungen der Bundeswehr bis heute tradiert. Dieser fordert Vorgesetzte auf, durch eine pädagogisch geleitete Führung und Ausbildung ein Band des Vertrauens zu knüpfen, das im Krieg tragen kann – in der kleinen Kampfgemeinschaft genauso wie in den Streitkräften insgesamt. Auftragstaktik und Fehlerkultur sind dafür bestens geeignete Mittel und Wege. Soldatische Erziehung wird auf diese Weise zu einem Bollwerk gegen die Bürokratisierung von Streitkräften. Weiterhin ist sie eine ethische Bremse, die vor einem menschenunwürdigen Umgang mit unterstelltem Personal bewahrt. Sie liefert zudem eine überzeugende Begründung, weshalb Streitkräfte nicht wie eine zivile Behörde geführt werden dürfen – weder von der politischen Leitung noch der militärischen Führung.
