Interview mit Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert von Katja Gersemann
Katja Gersemann: Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat den Fokus der Politik auch auf die eigene Verteidigungsbereitschaft gelenkt. Die Bundesregierung investiert Summen in die Bundeswehr, die noch vor einem Jahr unvorstellbar waren. Bundeskanzler Scholz sprach von einer Zeitenwende. Ist das deutsche Unbehagen allem Militärischen gegenüber nun dauerhaft gewichen – oder sehen wir vielmehr eine Momentaufnahme?
Marcel Bohnert: Ich sehe das Momentum, die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft neu auszugestalten. Für das 100-Milliarden-Paket gab es in Bevölkerung und Politik große Zustimmung. Allerdings zu einer Zeit, in der der Schock des russischen Überfalls noch sehr tief saß. Die eigene Verletzbarkeit war plötzlich greifbar.
Die Tragweite dieser Zäsur können wir in ihrer gesamten Dimension noch immer nicht absehen. Wie die derzeitigen Debatten zeigen, gleiten wir – je länger der Krieg in der Ukraine dauert – jedoch offenbar wieder zurück in alte Denk- und Verhaltensmuster. Der frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat es vor Jahren so formuliert: „Wir leben in einer zutiefst pazifistischen Gesellschaft mit einer Grundskepsis gegenüber allem Militärischen.“ Das fasst meiner Meinung nach das generelle Unbehagen oder zumindest die Indifferenz der Bevölkerung gegenüber Soldatinnen und Soldaten sehr treffend zusammen – auch heute noch. Das hat historische Gründe, die völlig nachvollziehbar und vernünftig sind. Diese Indifferenz ist aber aus meiner Sicht nicht angemessen, wenn man berücksichtigt, was Bundeswehrangehörige tagtäglich leisten.Und in der heutigen sicherheitspolitischen Lage ist sie sicherlich auch grundsätzlich der falsche Ansatz.

Katja Gersemann: Immerhin hat sich seit de Maizière einiges zum Guten gewendet, was Anerkennung und Wertschätzung angeht…
Marcel Bohnert: Es gab in den letzten Jahren kleine Schritte, die Bundeswehr und Bevölkerung wieder zusammengebracht haben. Die Amtshilfeeinsätze in der Covid 19-Pandemie und nach dem Hochwasser im Ahrtal sind hier natürlich an erster Stelle zu nennen. Ganz wichtig war auch die Einführung des kostenlosen Bahnfahrens in Uniform. Vorher waren uniformierte Soldatinnen und Soldaten in der Gesellschaft kaum noch präsent. Nun sind sie wieder überall zu sehen. Das rückt die Bundeswehr wieder ins Bewusstsein vieler Menschen.
Katja Gersemann: Andere Länder haben eine viel ausgeprägtere Veteranenkultur. Werden wir da aufschließen können?
Marcel Bohnert: Was Versorgung und Fürsorge angeht, gab es in Deutschland seit Beginn der Auslandseinsätze enorme Fortschritte, wir haben ein hohes Niveau erreicht – auch wenn es an manchen Stellen natürlich noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Da schneiden wir im internationalen Vergleich sehr gut ab.
Eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung von Veteranen, wie sie etwa in den Niederlanden oder in den USA und in vielen anderen Ländern selbstverständlich ist, ist hier allerdings tatsächlich nicht zu finden. Da liegt noch einiges an Arbeit vor uns.
Eine Veteranenbewegung existiert in Deutschland vor allem als Graswurzelbewegung. Da haben wir zum Beispiel die K-Märsche: Beim diesjährigen „12K3“, bei dem 12km in Gedenken an die drei Gefallenen des Karfreitaggefechtes in Afghanistan marschiert wurden, haben über 5.000 Menschen teilgenommen. Auch der Sportwettkampf „Good Friday Battle“ wächst von Jahr zu Jahr. Erwähnenswert sind zudem auch private Initiativen wie #DerLeereStuhl: Familien lassen jedes Jahr zu Weihnachten einen Platz an ihren Tafeln frei, um so einerseits an Gefallene der Bundeswehr zu denken und andererseits Solidarität mit Einsatzveteranen und Hinterbliebenen zu demonstrieren.
Diese und andere Initiativen zeigen, dass es auch hierzulande einen Bedarf für Veteranenkultur gibt. Da entsteht gerade etwas. Ich bin davon überzeugt, dass es wichtig ist, diese Ansätze zu kanalisieren im Austausch mit allen – auch den kleineren Veteranenverbänden – mitzugestalten. Wir alle dürfen es nicht zulassen, dass der Begriff „Veteranen“ von den politischen Rändern, von Radikalen oder Extremisten besetzt wird. „Veteranen 5 vor 12“ oder der „Veteranenpool“ waren im letzten Jahr Warnsignale für eine missbräuchliche Besetzung des Begriffes.

Katja Gersemann: Was können wir von anderen Ländern konkret lernen, was würde die Veteranenkultur in Deutschland wirklich voranbringen?
Marcel Bohnert: 2016 ist das Buch „Die unsichtbaren Veteranen“ erschienen, das hierzulande als Meilenstein der Debatte gilt. Mehr als 30 Wissenschaftler, Politiker, Journalisten und Militärangehörige haben gemeinsam mit Betroffenen und Hinterbliebenen eine Denkschrift verfasst, die noch heute als Referenzpunkt der Bewegung dient. In den verschiedenen Beiträgen wird sehr deutlich, woran es in Deutschland ganz besonders hapert – und das gilt heute wie damals.
Nach meiner Wahrnehmung fehlen vor allem Veranstaltungen mit Symbolwert, wie etwa Militärparaden, Rückkehrer-Appelle oder öffentlichen Verleihung von Medaillen und anderen Auszeichnungen. Im Idealfall unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Wenn das dann nach der Beendigung von Einsätzen noch von einer ernst gemeinten Evaluation begleitet wird, wäre das nur angemessen. Das ist in anderen Ländern Standard. Der Abschlussappell Afghanistan im Oktober 2021 sowie die in diesem Jahr eingerichtete Enquete-Kommission und der Untersuchungsausschuss zur Afghanistan-Mission sind da ein guter Anfang.
Seit vielen Jahren fordern Veteranenverbände auch die Einführung eines Veteranentages. Das sehen neben den Vertretern des Deutschen BundeswehrVerbandes auch viele jüngere Veteranenverbände in Deutschland so. Mit einigen wichtigen Stakeholdern – u.a. dem Bund Deutscher EinsatzVeteranen, dem Combat Veteran e.V. oder Veteranenkultur e.V. – habe ich bereits intensive Gespräche geführt. Auch die Freundeskreise der Truppengattungen werden auf vielen Kanälen in den Meinungsbildungsprozess mit einbezogen werden. Mein Ziel: Den Veteranen-Anliegen soll noch mehr Nachdruck verliehen werden. Eine einheitliche Stimme der Veteranenbewegung ist dabei Grundvoraussetzung. Ob der Veteranentag am Ende der 20. Juli sein wird, der Tag der Bundeswehr, der Karfreitag oder der 2. April, also der Tag des Karfreitagsgefechts – das kann man noch diskutieren. Wichtig ist, ihn überhaupt zu etablieren. Auch bei anderen Forderungen sind wir weiterhin dabei, uns mit anderen Verbänden abzustimmen, um eine möglichst große Breitenwirkung zu erzielen.

Katja Gersemann: Wo gibt es weitere Schnittmengen mit den jüngeren Veteranenverbänden?
Marcel Bohnert: Ich denke, dass viele auch der Forderung nach einer prominenten Schirmherrschaft zustimmen. Im Idealfall sollte der Bundespräsident diese Aufgabe übernehmen. Die Politik muss das Thema aufgreifen und voranbringen. Und im Bundesministerium der Verteidigung muss aus meiner Sicht wieder ein Parlamentarischer Staatssekretär als Gallionsfigur für die Belange der Veteranen eintreten – so wie einst Dr. Peter Tauber, der wegen seiner großen Nähe zu Soldatinnen und Soldaten sehr beliebt und hoch anerkannt war. Es gibt auch die Idee eines „Veteranengenerals“ mit einem leistungsfähigen Arbeitsmuskel im Ministerium, der Veteranenanliegen voranbringen könnte.
Ganz wichtig ist aus Sicht der verschiedenen soldatischen Interessenvertretungen die Förderung der öffentlichen Debatte, etwa durch Ausstellungen oder die Teilnahme von Veteranenvertretern in Talkshows oder auf Podiumsdiskussionen. Ein guter Schritt wäre zudem der Ausbau von Kooperationsverträgen mit der Zivilgesellschaft, um etwa Vergünstigungen für Veteranen zu fördern und diese besser sichtbar zu machen. All das trifft auch bei anderen Veteranenverbänden auf Zustimmung. Ich habe mich zu diesen und ähnlichen Fragen schon mit sehr vielen Interessierten und Verantwortlichen, u.a. mit dem Evangelischen Militärbischof, dem Kommandeur des Zentrums Innere Führung, dem Beauftragten des Bundesministeriums der Verteidigung für einsatzbedingte posttraumatische Belastungsstörungen und Einsatztraumatisierte, der Soldaten- und Veteranenstiftung, der Oberst Schöttler Versehrtenstiftung oder dem Leiter des für Veteranenpolitik verantwortlichen Referats im Ministerium ausgetauscht.

Katja Gersemann: Wir haben in Deutschland nach wie vor die Situation, dass manche Schulen Jugendoffiziere ablehnen. Und an nicht wenigen Universitäten gelten Kooperationsverbote mit der Bundeswehr. Glauben Sie, dass sich vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse hier etwas nachhaltig verändern wird?
Marcel Bohnert: Die Bundeswehr lässt sich seit Jahrzehnten diese und ähnliche Herabwürdigungen aus gesellschaftlichen Kreisen gefallen, ohne dagegen nachträglich eine Stimme zu erheben. So etwas muss öffentlich thematisiert und diskutiert werden, das kann nicht einfach so hingenommen oder sogar noch gefördert werden. Ich erinnere an die staatliche mitfinanzierte Online-Messe re:publica 2018, von der die Bundeswehr ausgeschlossen werden sollte oder den Aachener Friedenspreis, der 2013 an Schulen verliehen wurde, die den Ausschluss von Jugendoffizieren beschlossen hatten. Das Umdenken, das durch den russischen Angriff auf die Ukraine eingesetzt hat, verhindert künftig hoffentlich solche Tiefpunkte. Da hilft es im besten Falle auch schon, wenn sicherheitspolitische Diskussionen nicht mehr länger nur in Fachzirkeln geführt werden.
Katja Gersemann: Sie haben im April 2022 die Invictus Games in Den Haag besucht. Welche Eindrücke und Erkenntnisse haben Sie von diesen Spielen für kriegsversehrte Soldatinnen und Soldaten mitgenommen?
Marcel Bohnert: Ich habe nun einen guten Eindruck davon, was uns erwartet, wenn die Spiele im nächsten Jahr im September in Düsseldorf stattfinden. Die Veranstaltung in Den Haag war zutiefst beeindruckend – all diese Menschen, die sich trotz ihrer seelischen und körperlichen Verwundungen ins Leben zurück kämpfen und gekämpft haben. Ich hoffe sehr und bin zuversichtlich, dass wir das 2023 in Deutschland mindestens genauso gut hinbekommen. Das wäre eine echte Chance für unsere Veteranenkultur.